Warum der Standort in der Stadtmitte so wichtig ist und wie wir für die Erweiterung des AGB-Gebäudes vorgesorgt haben
Seit der Spaltung Berlins entbehrte der freie Teil der Stadt der großen, umfassenden Büchersammlungen. Mit dem ihm innewohnenden Instinkt hatte Ernst Reuter erfasst, dass es mit dem Vorschlag einer Bibliothek etwas Neues zu schaffen galt. Gegen Ende des Jahres 1950 wurde dem damaligen amerikanischen Stadtkommandanten der Vorschlag des Oberbürgermeisters überreicht. Dieser bereits spezifizierte Plan sah vor, dass die Stadt ein ihr gehörendes Grundstück am Halleschen Tor bereitstellte. Die Wahl war auf dieses Gelände gefallen, weil es Erweiterungsmöglichkeiten für die Zukunft bot und vor allem, weil es am südlichen Scheitelpunkt der alten Innenstadt ganz in der Nähe des Ostsektors lag.
Vom Standpunkt des Städtebauers musste dieser Platz den vorgenannten Bedingungen am besten entsprechen, denn ein Gebäude, das sich hier markant erhob, vermochte den bislang akzentlos auslaufenden Zug der Friedrichstraße am südlichen Scheitelpunkt aufzufangen und damit den Abschluss der City, der alten Friedrichstadt, zu betonen. Diese ausgezeichnete Lage hatte schon vor dem Kriege zu Entwürfen für ein neues Rathaus des Bezirks Kreuzberg an dieser Stelle geführt, die dann jedoch zurückgestellt wurden.
Das Gelände war ausgedehnt genug, um nicht nur künftige Erweiterungen des Gebäudes zuzulassen, sondern auch durch landschaftliche Gestaltung des Platzes eine Atmosphäre zu schaffen, die zum Verweilen einlud. Eine kleine im Nordosten gelegene Geländespitze von 4280 Quadratmetern war noch hinzu zu erwerben und außerdem mussten, wie sich später erwies, verschiedene Restitutionsansprüche geregelt werden. Verkehrstechnisch sprach für diesen Ort, dass er zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung der gespaltenen Stadthälften der künftigen Zentralbibliothek einen von allen Seiten gut erreichbaren Platz verlieh, was vor allem durch den Achsenschnittpunkt des hier in nord-südlicher und ost-westlicher Richtung sich kreuzenden Untergrund- und Hochbahnsystems mit der unmittelbar benachbarten Station „Hallesches Tor“ begünstigt wurde.
Unter dem kulturellen und soziologischen Aspekt bedeutete die Wahl dieses Standortes auch eine deutliche Entscheidung zugunsten der breiten Bevölkerungskreise, denen der Zugang bequem gemacht wurde. Es konnte kaum zweifelhaft sein, dass der eigentliche Heimatbezirk Kreuzberg, der mit 210 400 Einwohnern trotz starker Kriegszerstörungen eine hohe Besiedelungsdichte aufwies, einen erheblichen Nutzen aus dieser Bildungsquelle ziehen würde. Bedingt durch zahlreiche kleine und mittlere Handwerks- und Industriebetriebe, geben die Arbeiterschaft und die große Masse des Mittelstandes der sozialen Struktur das Gepräge, während sich Reste eines früheren gehobenen Bürgerstandes nur noch in vereinzelten Wohnvierteln behaupten. Nicht sehr verschieden hiervon verhält es sich in den Nachbarbezirken Neukölln, Tempelhof und Schöneberg. Als besonders wichtiges Moment kam hinzu, dass das geplante Institut mit seinen liberal gehandhabten Einrichtungen eine starke Anziehungskraft auf die in dem nur 1300 Meter entfernten Ostsektor lebende Bevölkerung auszuüben versprach.
Aus all diesen Erwägungen entschloss sich der Magistrat, dem amerikanischen Stadtkommandanten das Terrain am Halleschen Tor als Bauplatz anzubieten. Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf die wichtigsten Grundzüge dieser ersten Planung zu werfen, die den Ausgangspunkt der Überlegungen darstellt und für spätere Betrachtungen manchen aufschlussreichen Vergleich bietet. Da die Spendensumme mit 5 Millionen DM beziffert und ein Baukostenindex von rund 120 DM pro Kubikmeter zugrunde gelegt worden war, ergab sich eine Baumasse von rund 45 000 Kubikmetern. Man kam jedoch bald zu der Erkenntnis, dass das beste Gebäude wenig nützte, wenn es nicht mit einer von Anfang an ausreichenden Zahl von Büchern ausgestattet sein würde. So zweigte man 1 Million DM für Buchanschaffungen ab, was zur Folge hatte, dass der umbaute Raum auf 34 000 Kubikmeter reduziert werden musste.
Das Hauptcharakteristikum des Entwurfs bestand in einem zwölfgeschossigen Magazinturm, der mit seiner schmal aufragenden Front axial genau in der Blickrichtung der Friedrichstraße stand, so dass er schon von der Straße „Unter den Linden“ zu sehen sein musste. In klarer Dreigliederung schlossen sich nach Osten, Westen und Süden niedrigere Flachbauteile an, die eine große Freihandbücherei und eine Gruppe von Lesesälen beherbergen sollten. Die Freihandausleihe war auf 50 000 Bände berechnet und stellte schon damit für den Plan einer deutschen Zentralbibliothek ein Novum dar.
Der Fassungsraum der Büchermagazine war auf 1 Million Bände veranschlagt. Da die genannte Bausumme nur eine teilweise Verwirklichung der Wünsche zuließ, war an eine spätere Aufstockung des Turms und damit des Magazinraumes um 15 000 Kubikmeter sowie einen dreigeschossigen Ausbau der Flügel nach Osten und Süden gedacht. Ohne das zunächst im Rücken gelegene Friedhofsgelände zu berühren, ließ sich eine Vergrößerung des Baues auf insgesamt 70 000 Kubikmeter – also das Doppelte! – erreichen. Der Entwurf wurde von Oberbaurat Ernst Grimmek und Baurat Dipl. Ing. Horst Müller unter Mitwirkung von Bibl.-Rat Carl Löffler und des Verfassers angefertigt.
Bei kritischer Betrachtung muss auffallen, dass die „Anleitungen“ für den Architekten Schwerpunkte enthielten. Der Gedanke der räumlichen Veränderbarkeit (flexibility) kam schon in der Anregung zum Ausdruck: „Da eine Bibliothek wie kaum ein zweites Bauwerk ein lebendiger Organismus ist, muss schon in seiner ersten Gestalt die Möglichkeit späterer Veränderungen und Erweiterungen mitgedacht sein. Die Benutzungs- und Verwaltungsräume sind deshalb möglichst stützenfrei auszubilden, so dass Wandversetzungen und andere räumliche Umgruppierungen jederzeit durchführbar sind. Auch für den Magazinbau ist anzuraten, die Pfosten der Repositorien nicht als Konstruktionselemente zu verwenden, um notwendig werdende Änderungen in der Aufstellung der Gestellreihen zu ermöglichen.“
Mit den auf den vorstehenden Seiten in sehr begrenzter Auswahl behandelten Entwürfen ist der Kreis der wesentlichsten Gedankengänge abgeschritten. So manches, was an Überlegungen darin zum Ausdruck kam, darf auch bei rückschauender Betrachtung ein mehr als nur zeitbedingtes Interesse für sich in Anspruch nehmen.
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Autor: Dr. Fritz Moser (1908 – 1988) wurde im Dezember 1952 Gründungsdirektor der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) und bis Januar 1973 im Amt.
Die Amerika Gedenkbibliothek wurde im September 1954 unter dem Namen Amerika-Gedenkbibliothek/Berliner Zentralbibliothek eröffnet.
Der vollständige Artikel “Die Amerika-Gedenkbibliothek lässt sich an Ort und Stelle verdoppeln” erschien am 8. Mai 2013 in Der Hauptstadtbrief, Der Artikel wurde von der Hauptstadtbrief-Redaktion aus Texten von Fritz Moser zusammen gesetzt. Auslassungen sind nicht ausgewiesen. Die Rechtschreibung wurde modernisiert. Die Texte kommen aus folgenden Quellen:
Ein Denkmal freiheitlichen Geistes, Broschüre zum 10. Geburtstag der AGB, 17.09.1964, Dr. Fritz Moser, S. 6, Absatz 1
Die Amerika-Gedenkbibliothek Berlin. Entstehung, Gestalt und Wirken einer öffentlichen Zentralbibliothek, Dr. Fritz Moser, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Band 13, bei Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1964
S. 11, Absätze 2 + 3; S. 11/12, Absatz 4; S. 12 Absätze 5+6; S. 13, Absatz 7 + Fußnote 17; S. 15/16 Absatz 8; S. 21 Schlussabsatz
Bilder vom Entwurf für die Vergrößerung der Amerika Gedenkbibliothek an Ort und Stelle: Steven Holl Architects, 1988/90
Collage Titelbild: tempelhoferfeld.info cc
Die Bauwelt hat dankenswerterweise folgenden Artikel frei zum Download gestellt
Fritz Moser, Amerika-Gedenkbibliothek, Bauwelt 8/1955
www.bauwelt.de/sixcms/media.php/829/Berliner%20Gedenkbibliothek.pdf
Die Amerika Gedenkbibliothek ist immer noch Deutschlands beste Bibliothek
globolibro.wordpress.com/2014/01/27/studie-chicago-public-library-ist-die-beste-bibliothek-der-usa
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Da der Bau einer neuen Zentral-Bibliothek auf dem Tempelhofer Feld oft als alternativlos dargestellt wird, möchte die Redaktion von tempelhoferfeld.info über die Weitsicht der Gründer der Amerika Gedenkbibliothek aufklären.
Weitere lesenswerte Beiträge zum Thema Amerika Gedenkbibliothek / Neubau Zentralbibliothek:
www.tempelhoferfeld.info/tag/zlb
www.zeitreisen.de/schlossplatz/bibliothek/nutzungskonzept-kurz.htm
Jan Friedrich, Bibliothek auf Tempelhof? 45 Stegreifentwürfe und jede Menge neuer Standortvorschläge, Bauwelt
www.bauwelt.de/cms/artikel.html?id=4395239
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Nachträge nach dem erfolgreichen Volksentscheid für ein unbebautes Tempelhofer Feld
Folgendes Portal berichtet laufend zum Thema ZLB
www.kribiblio.de/?p=209
Interessante Texte zur AGB gibt es hier
libreas.eu/ausgabe24/04blumer
Juli 2014, ZLB Vorstand Volker Heller lobt den jetzigen AGB-Standort als idealen Standort für die ZLB
www.berliner-zeitung.de/berlin/zlb-vorstand-lobt-bluecherplatz-als-standort-fuer-zentralbibliothek%2C10809148%2C27920218%2Cview%2CasTicker.html
www.morgenpost.de/newsticker/dpa_nt/regioline_nt/berlinbrandenburg_nt/article130458976/ZLB-Vorstand-lobt-Bluecherplatz-als-Standort-fuer-Zentralbibliothek.html
www.neues-deutschland.de/artikel/940115.bibliothek-am-bluecherplatz.html
taz.de/Buecherkisten/!142892
www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2014%2F07%2F23%2Fa0141&cHash=d71bf742c346a5617cf2fc0034ada375
September 2014, anlässlich des 60. Geburtstages der AGB wurde ihr Standort gelobt
rbb sieht den Blücherplatz als Ort der neuen ZLB
www.rbb-online.de/kultur/beitrag/2014/09/60-jahre-amerika-gedenkbibliothek-berlin-neue-zlb.html
Rolf Lautenschläger erwähnt Gründungs-Direktor Moser und erwähnt den Erweiterungs-Entwurf von Steven Holl
www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bt&dig=2014%2F09%2F18%2Fa0192&cHash=1718695901d3a0d6d82fe665ca2794a7
Ex-Kultur-Staatssekretär Andre Schmitz legt sich auf keinen Standort fest:
www.tagesspiegel.de/kultur/60-jahre-amerika-gedenkbibliothek-die-agb-ist-eine-saeule-unseres-gemeinwesens/10729560.html
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